rot-schwarze Fahne
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Serbien: Klassenkonflikt als Aphrodisiakum für erfolgreiche Kommunikation

In letzter Zeit [2003] wurde auf den Anarcho-Syndikalismus oft bezug genommen, und meist in einer Art selbsterfundener oder bewusst falsch gewählter Bedeutung. Wir sind nicht verwundert über das Ausmass an schlechter Bildung und Ignoranz der RegierungsvertreterInnen. Sie preschen vor mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen, doch nie dort, wo sie es verantwortlich tun sollten. Jedenfalls sind wir erbost, dass die sogenannten VertreterInnen der ArbeiterInnen, die GewerkschaftsbürokratInnen, öffentlich Unsinn behaupten und der Regierung zuarbeiten, indem sie ihnen die "Hand der Versöhnung" reichen.

Während der letzten paar Monate warnte Milenko Smiljanic, der Präsident der SSSS [Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Serbiens](1) die serbische Regierung, dass sie, wenn sie sich weigert mit ihm zusammen zu arbeiten, sich mit einer Radikalisierung der Proteste und mit der Gründung von Anarcho-Syndikaten und damit mit wild tobenden Massen, konfrontiert sehen wird.

Jedem, der etwas über die Standpunkte weiss, die Anarcho-SyndikalistInnen hier oder weltweit einnehmen, ist klar, dass wir es hier mit billiger Propaganda eines Bürokraten zu tun haben, der ohne Unterstützung und ohne Verhandlungsoptionen alleine dasteht und dessen Stellung von den unbefriedigten und ausgetricksten [Gewerkschafts-]Mitgliedern schwer erschüttert wurde. Anarcho-Syndikate haben nie und nirgends ungeplante Gewalt und Verwüstungen in den Strassen propagiert. Die Sache, auf die wir bisher mehrfach hingewiesen haben, ist die: Wenn wir unsere Rechte nicht auf zivilisierte Art bekommen, dann werden wir den Barbaren auf der anderen Seite nicht erlauben unser Leben nach ihren Masstäben zu gestalten. Im Gegenteil, wir werden auf die einzige Weise reagieren, die ihnen verständlich ist. In diesem Punkt hat Smiljanic absolut recht, wenn er die Arbeiter von Kragujevac verteidigt, die versucht hatten sich auf gewaltsame Weise mit den Regierungsvertretern zu unterhalten. (Die Arbeiter der Auto- und Waffenfabrik "Zastava" in Kragujevac hatten versucht den Finanzminister während seines Besuches zu verprügeln, d.Ü.). Es ist einfach für Politiker ihre kriminellen Handlungen fortzusetzen, aber die ArbeiterInnen, die nach langen Jahren der Arbeit gefeuert werden, haben in dieser Gesellschaft keine andere Perspektive.

Unser Ideal ist eine Gesellschaft ohne Gewalt. Unser Ziel ist eine freie Gesellschaft von gleichen, selbstbewussten Einzelnen, die zur gegenseitigen Hilfe bereit sind. Anarcho-SyndikalistInnen wurden während aller vergangenen Kriege für ihren Antimilitarismus verleumdet, eingesperrt, gefoltert und umgebracht. Für uns ist Gewalt Wirklichkeit und kein Fetisch. Aber das heisst nicht, dass wir tatenlos auf dem Arsch sitzen bleiben und zusehen, wie unser Leben unter den Teppich der Privatisierung gekehrt wird. Wir werden alle wirksamen Massnahmen einsetzen, um unsere Ziele zu erreichen. Aber nicht im Widerspruch zu unseren ethischen Grundsätzen und nur zum wirklichen Vorteil für die Verbesserung der Lage der ArbeiterInnen und anderer unterdrückter Leute. Wie dem auch sei, betrachten wir die Geschichte mal anders herum: fragen wir den Staat und die Chefs, was sie von Gewalt halten.
Wer beginnt Kriege und warum?
Wer braucht die Polizei, um sogar mit denen fertig zu werden, die nicht das selbe denken?
Wer kommt mit privaten Sicherheitsdiensten und Leibwächtern, um ArbeiterInnen zu
feuern und die Fabrik mit Zwang zu übernehmen?
Wer propagiert und realisiert das Wirtschaftsmodell, das Millionen menschlicher Wesen auf der ganzen Welt in einen Zustand dauernder Ausbeutung versetzt?
Das ist Gewalt, eine mehr als offensichtliche und derbe Gewalt. Aber diese Gewalt wird von PolitikerInnen und Chefs benutzt, um ihre Interessen unangreifbar zu machen.

Die GewerkschaftsbürokratInnen winken der Regierung mit "ihrem" Anarcho-Syndikalismus, bieten ihnen Gespräche an und beruhigen die ArbeiterInnen, um die Sympathien der Regierung zu erlangen und ihre eigene Vormachtstellung abzusichern. Weder erwarten wir, dass die PolitikerInnen eine besonders gute Meinung von uns haben, noch kümmert uns was sie denken (das heisst, wenn sie überhaupt denken). Aber andererseits gibt es einen Grund, warum die GewerkschaftsbürokratInnen versuchen unsere Methoden zu verfälschen und zu verzerren: die enttäuschten Mitglieder der "grossen" Gewerkschaften, die sich der versteinerten Gestalt der Gewerkschaftsbürokratie bewusst sind und die von den haushohen Lügen angeekelt sind, beginnen massenweise sich von den Gewerkschaftszentalen abzuwenden. Während sie langsam die Handlungsunfähigkeit der hierarchischen und autoritären Gewerkschaften erkennen, haben einige lokale und regionale Räte der SSSS [Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Serbiens] Kontakt zu unserem Syndikat aufgenommen. Jedem vernünftigen und zivilisierten Menschen ist klar, dass seine/ihre Stimme am besten in nicht-hierarchischen, direktdemokratischen Syndikaten gehört werden kann, in denen die Entscheidungen nur von den Mitgliedern getroffen werden und nicht von BürokratInnen. Diese sind von oben ernannt und haben daher nicht die gleichen Interessen, wie jene, die sie vertreten sollten.

Im Gegensatz zu den Mainstream-Gewerkschaften werden in unserer Gewerkschaft die Entscheidungen nicht von einer bestechlichen Führungsschicht (SSSS), der serbischen Regierung (ASNS)(2) oder ausländischen Geldquellen (Nezavisnost)(3) getroffen, sondern von den Mitgliedern allein. Unsere Statuten lassen keine andere Möglichkeit zu.

Während des Protestmarsches (am 25. Juni 2003) haben Smiljanic und seine Clique versucht uns von den Protesten abzuschneiden, indem sie die anderen ArbeiterInnen aufriefen uns zu boykottieren. Trotzdem waren sie konfrontiert mit wildwütenden Anworten der ArbeiterInnen, die die wahren Beweggründe hinter diesem Aufruf erkannt hatten. Die empörten RüstungsarbeiterInnen hätten diese Angelegenheit mit einem SSSS-Bürokraten beinahe handfest geregelt, der laut dazu aufgerufen hatte "diese Leute mit ihren rot-schwarzen Fahnen und staatsfeindlichen Transparenten" rauszuschmeissen.

Wir wiederholen nochmal die Grundlagen unserer Aktivitäten. Es war nicht unsere Wahl jemanden anzugreifen. Wir leben alle in einem dauernden Krieg des Staates gegen die Gesellschaft und der Chefs gegen die ArbeiterInnen. Das wird klar durch das Verhältnis des Staates zu den Medien... (4) Wir antworten auf ihre Angriffe. Wir verteidigen uns. Die Gesellschaft kann ihren Widerstand auf verschiedene Arten äussern, aber der einzige Weg die Gesellschaft der Ausbeutung - die Macht eines Menschen über einen anderen, den Leid, den Schmerz, die Armut und die Lüge - ein für alle mal zu beenden, muss hier und jetzt in revolutionären Gewerkschaften organisiert werden, die den Kampf nicht aufgeben bis wir beginnen können in Freiheit zu leben.

Das bedeutet, dass wir keinen neuen [Lech] Valensa oder einen anderen Bürokraten brauchen, der auf den Rücken der ArbeiterInnen im Staat Karriere macht. Also, wenn wir uns der Ursachen und Wege bewusst werden, die uns in diese erniedrigende Lage geführt haben, dann wird uns klar werden, warum wir uns nicht mit der Frage beschäftigen, welche Partei an der Macht ist oder ob wir für die eine oder andere Seite Unterschriften gegen jene sammeln sollten. Können die Aktivitäten im Verlauf irgendeines Regierungswechsels den ArbeiterInnen etwas wirklich wichtiges bringen? Wie oft müssen wir mit dem Vertrauen experimentieren, dass wir in die PolitikerInnen setzen? PolitikerInnen und Chefs arbeiten zusammen und behalten somit ihre Privilegien. Überlasst ihnen ihre Streitigkeiten und legen wir unseren Schwerpunkt auf unser Ziel: ein besseres Leben hier und jetzt.

Bedeutet das Strassenproteste? Strassenblockaden? Besetzung der Fabriken bis wir das bekommen, was wir fordern? Forderungen nach einem 4-Stunden-Tag? Generalstreik bis zur Erfüllung aller unserer Ziele? Kann uns irgendjemand solche Aktionen verbieten?

Jedenfalls wurde ein diktatorisches Regime auf diese Art abgesetzt und ein anderes benutzte dieses Chaos für seinen Aufstieg. Wir sollten nie wieder den PolitikerInnen und Chefs erlauben unseren Kampf für ihre Ziele zu benutzen. Wir brauchen keine Zusammenarbeit mit politischen Parteien. Wir brauchen ihre Unterstützung nicht. Für die Schaffung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, gleichberechtigter, nicht-hierarchischer Beziehungen zwischen den Menschen, brauchen wir keine Anführer, sondern nur ein wenig Selbstvertrauen, wie auch alle anderen positiven Errungenschaften der Zivilisation, die wir gegen die dunkelen Kräfte des Aberglaubens besitzen.

Die postmodernen "DenkerInnen" versuchen uns zu überzeugen, dass wir in einer Zeit leben, in der Ideale nichts mehr bedeuten. Wir teilen diese Ansicht nicht, denn durch die Annahme dieser Meinung würden die Menschen auch die Vorstellung akzeptieren, dass im Lauf der Geschichte all jene rückgratlosen Geschöpfe, die sich nur für ihre kleinen, egoistischen Ziele einsetzten, recht hatten.

Vor allem kämpfen wir für die Würde des Menschen.

Belgrader lokale Gruppe der Anarcho-Syndikalistischen Initiative (ASI)

Kontakt:
Anarcho-Syndikalistische Initiative (Serbien)
http://www.inicijativa.org


Anmerkungen der ÜbersetzerInnen:

(1) SSSS ist die "Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften Serbiens", die grösste
Zentralgewerkschaft in Serbien, die in der staatskommunistischen Ära Yugoslaviens verwurzelt ist
und die Milosevic während seiner Herrschaft unterstützt hat.

(2) ASNS ist die "gelbe" Gewerkschaft der serbischen Regierung, ihr Vorsitzender ist der Arbeitsminister.

(3) Nezavisnost ("Unabhängigkeit") ist die Gewerkschaft, die - freundlich gesagt - enge Verbindungen zur US-amerikanischen AFL-CIO hat. ["American Federation of Labor - Congress of Industrial Organizations" = Amerikanische Arbeits-Föderation - Kongress der Industrie-Organisationen, der mit 13 Millionen Mitgliedern und 68 Einzelgewerkschaften grösste
Gewerkschaftsdachverband in den USA]

(4) Die serbische Regierung hat letztens mehrere Gerichtsverfahren gegen verschiedene Zeitschriften und Radio/Fernseh-Sender [u.a. NIN] eröffnet, die die Arbeit der Regierung kritisiert hatten.


Der Text erschien am 10.Juli 2003 in der grössten serbischen Wochenzeitung "NIN" (wöchentliche
Informations-Zeitung) als unsere Antwort auf die anhaltenden Angriffe durch GewerkschaftsbürokratInnen und VertreterInnen der Regierung und des serbischen Staates auf unser Syndikat und auf den Anarcho-Syndikalismus allgemein. Meines Wissens ist es der erste Text seit 1935 (seit der Erstausgabe der Zeitung), der in der Zeitung erscheint und von einem Kollektiv von Leuten unterschrieben wurde und nicht mit einem einzelnen Namen.

Rata


Übersetzung: Anarchosyndikat "eduCat" (Köln/Bonn)
http://anarchosyndikalismus.org

Quelle: Alter_EE Mailingliste
http://www.alter.most.org.pl/fa/


Mehr Informationen über die ASI-IAA auf unserer Sonderseite Serbien