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Juan Peiró
Syndikalismus und Anarchismus
Die fünfzehn Kapitel dieses Buches sind ursprünglich Artikel
aus verschiedenen Zeitungen gewesen und 1928/29 erschienen. Sie nahmen
jeweils Stellung zu laufenden Diskussionen innerhalb der C.N.T.
Peiró war damals Sekretär im nationalen Komitee der C.N.T.
1931 erschienen die einzelnen Artikel zusammengefaßt als Buch
unter dem Titel "Ideas sobre sindicalismo y anarquismo",
herausgegeben von der Gruppe "Solidaridad" aus Barcelona.
Die gekürzte Übersetzung folgt der Neuauflage durch die
Exil - C.N.T. in Mexico aus dem Jahre 1959. Dort ist der Text zusammen
mit einem Aufsatz über die Organisation der C.N.T. unter dem
Titel "Pensamiento de Juan Peiró" erschienen:
Organische Struktur der Gewerkschaften
Der industrielle Kapitalismus tendiert immer mehr zur Zentralisierung.
Seine Struktur verändert sich von der einfachen zur vielschichtigen
Organisationsform. Ein Industriezweig z.B., der abhängig ist
von anderen Industriezweigen und Zulieferbetrieben - und das sind
die meisten -, neigt dazu, diese Betriebe zu schlucken, bis sie alle
zusammen einen großen Industriebetrieb bilden.
Wenn wir als Modell einen großen Konzern der Metallindustrie
nehmen, der etwa Maschinen herstellt, werden wir sehen, daß
der Konzern die Herstellung der Maschinen von den kleinsten Teilen
bis zu dem Zeitpunkt übernimmt, an dem sie auf den Markt kommen.
Der Konzern wird außerdem seine Macht auf die Bergwerke und
Stahlwerke ausdehnen - was heute bereits in den USA, England, Frankreich,
Deutschland und in anderen Industrieländern geschieht. Dadurch
gelingt es ihm, zwei Industriezweige, von denen er vorher abhängig
war, unter seine Kontrolle zu bringen. Eine ähnliche Tendenz
können wir durchaus auch in den anderen Industriezweigen beobachten.
Folgerichtig kann es nur eine syndikalistische Organisationsform geben,
die dieser Zentralisierungstendenz in der Industrie entspricht: die
Industriegewerkschaft. Eine zentrale Gewerkschaft allein wäre
jedoch genausowenig angemessen, wie eine nur auf die lokale Ebene
beschränkte Gewerkschaft, die entsprechend der Art und der Ausbreitung
der Industrie auf Bezirks- und Kreisebene und auf der regionalen und
nationalen Ebene organisiert ist, entspricht unseren Vorstellungen.
Das ist jedoch eine Frage, die letztlich von denen gelöst werden
müßte, die davon betroffen sind oder entsprechend der ökonomischen
Struktur von den Organisationen in jedem Ort, in jedem Kreis und jeder
Region. Deshalb ist der Entwicklung des Kapitalismus die Industriegewerkschaft
als allgemeines Modell angemessen.
Bleiben wir bei dem Beispiel der Metallindustrie:
Die Gewerkschaftsarbeit muß alle Bereiche und Arbeitsgänge
umfassen, die zur Herstellung der Maschinen und der Zubehörteile
notwendig sind. Dazugehören müssen außerdem die Zulieferarbeiten
der Grundstoffindustrie. Demgegenüber versteht sich aber, daß
die Schlosser beispielsweise nicht zu dieser Industriegewerkschaft
gehören. Sie sind mehr zum Bereich der Bauwirtschaft zu zählen.
Entsprechend wird man auch in anderen Industriezweigen Bereiche aus
der Metallindustrie finden, die man der zentralen Gewerkschaft der
Metallindustrie zuordnen müßte.
Es soll hier nicht versucht werden, genaue und ein für alle Mal
festgelegte Normen darüber aufzustellen, welche Bereiche zu dieser
oder jener Gewerkschaft gehören. Vielmehr soll hier nur aufgezeigt
werden, was etwa zu einer bestimmten Industriegewerkschaft gehören
könnte.
Was uns im Augenblick am meisten beschäftigt, ist die Tatsache,
daß wir uns mit den Industrieverbänden ("sindicatos
unicos") scheinbar gegen die Ziele und die Praxis des Föderalismus
gestellt haben, die unsere Organisation bis jetzt charakterisierten.
Die Konstitution der Industrieverbände ist aus der Notwendigkeit
heraus erfolgt, die Kräfte zu konzentrieren. Wir haben uns zwar
wenig an die Formulierungen der Statuten des Regionalen Kongresses
von Katalonien von 1918 gehalten (Anmerkung: Der regionale Kongreß
der C.N.T. von Katalonien fand im Winter 1918 in Sans - einem Arbeiterviertel
von Barcelona - statt. Ein wesentlicher Beschluß war die Zusammenfassung
der verschiedenen Berufsgruppen eines Industriezweiges zu lokalen
Industrieverbänden - sindicatos unicos - ). Wir müssen
aber dennoch bemerken, daß die Konzentration der Gewerkschaft
in keiner Weise die Eigenständigkeit der einzelnen Berufszweige
zerstören, sondern im Gegenteil diese stärken soll. Von
der Konzeption her ist der Industrieverband ("sindicato unico")
entschieden föderalistisch, während er jedoch in der Praxis
stark zentralistisch war.
Die Gewerkschaft ist nicht mehr als die Föderation verschiedener
Arbeitsbereiche eines Industriezweiges, die durch die allgemeinen
Interessen und durch das Gefühl der Solidarität der ganzen
Klasse verbunden sind - unabhängig davon, ob es sich um Industriegewerkschaften
oder "sindicatos unicos" handelt. In dieser Föderation
gibt es zwei unterschiedliche Arten von Interessen:
Die Berufsinteressen, die allgemeinen Interessen und die Solidarität.
Die Verteidigung der ersteren ist eine Frage der einzelnen Sektionen,
während die zweiten im Rahmen der gewerkschaftlichen Praxis gelöst
werden.
Daraus ergibt sich, daß in der Industriegewerkschaft - genauso
wie zuvor in den Sektionen - jeder Bereich seine eigene Autonomie
bewahrt und deshalb seine eigene Leitung bzw. Verwaltung - wenn das
besser klingt - haben soll. Außerdem haben alle Arbeiter des
Bereichs das Recht, sich frei und unabhängig zu versammeln, um
ihre Arbeitsangelegenheiten zu behandeln. Das bedeutet jedoch nicht,
so hoffe ich jedenfalls, daß eine Sektion davon befreit wird,
die anderen von ihren Entschlüssen zu unterrichten, sie zu konsultieren,
sich nach deren Ratschlägen zu richten, wenn die Probleme schwerwiegender
sind und die gesamte Gewerkschaft betreffen.
Es handelt sich hier nicht allein um eine Frage des Prinzips, sondern
darüber hinaus auch um ein psychologisches Problem. Wir werden
wenige Arbeiter finden, die gut von der Arbeit sprechen. Aber sobald
wir auf die Gemeinsamkeiten des Berufes zu sprechen kommen, können
sie das für sich akzeptieren. Auf die gleiche Weise wie Arbeiter
auf ihren Körper stolz sind, die Klassenzusammengehörigkeit
in den einzelnen Sektoren spürbar ist, so prägen die Gemeinsamkeiten
der Berufe und der Arbeit das Proletariat.
Die Entscheidungsstruktur in der Industriegewerkschaft verläuft
von unten nach oben und sieht im einzelnen wie folgt aus:
a) die Gewerkschaft besteht aus einzelnen Sektionen, die autonom in
der Verwaltung und Leitung ihrer eigenen Interessen sind.
b) jede Sektion, die von einem Rat geleitet wird, behandelt und entscheidet
souverän über ihre Arbeitsprobleme, seien sie nun ökonomischer
und technischer oder sittlicher Art. Selbstverständlich müssen
die Entscheidungen mit den allgemeinen Interessen der Gewerkschaft
vereinbar sein.
c) Wenn die Beschlüsse und Vorschläge einer Sektion wegen
ihrer Tragweite die allgemeinen Interessen der Gewerkschaft berühren,
muß der Rat der Sektion zunächst das Komitee der Gewerkschaft
davon unterrichten, damit dieses die Räte der anderen Sektionen
- und wenn die Angelegenheit so wichtig ist oder es notwendig erscheinen
läßt auch die Vollversammlung der Gewerkschaft - davon
informiert.
d) Jede Sektion benennt einen oder mehrere Delegierte, die mit den
Delegierten der anderen Sektionen das Komitee der Gewerkschaft bilden,
das den Zusammenhang zwischen allen Sektionen herstellt und die Leitung
und Verwaltung der allgemeinen Interessen der Gemeinschaft trägt.
Die Funktionen des Komitees sind aber ausschließlich von allgemeinem
Charakter.
e) Obwohl die Delegierten im Komitee der Gewerkschaft immer für
ihre Handlungen verantwortlich sind, handeln sie in völliger
Unabhängigkeit gegenüber der einzelnen Sektionen.
f) Der Zusammenhalt zwischen den Sektionen und dem Komitee stellt
sich über einen oder mehrere Delegierte der Sektionen her, die
sich zu regelmäßigen Versammlungen treffen. Jede einzelne
Sektion soll dabei über die Arbeit der Gewerkschaft auf dem Laufenden
bleiben. Gleichzeitig können hier dem Komitee die Initiativen,
Vorschläge und Fragen vorgetragen werden, die in den Sektionen
entwickelt worden sind.
g) Immer wenn es notwendig ist, beruft das Komitee der Gewerkschaft
Sektionsversammlungen ein. Sie haben zum Ziel, die alle Beteiligten
betreffenden Fragen zu klären und die Interessen der Gewerkschaft
zu bestimmen.
Hier wurden die allgemeinen Prinzipien entwickelt, unter denen eine
Industriegewerkschaft intern geleitet werde sollte. Diese Prinzipien
sind vollständig mit den Postulaten des Föderalismus vereinbar,
von denen sich diejenigen, die für die Freiheit einstehen, niemals
abwenden sollten Es fehlen die administrativen Aspekte der Gewerkschaftsarbeit.
Aber weil wir diese Aspekte für sekundär halten, mag es
hier genügen zu betonen, daß die Verwaltung ebenfalls im
Hinblick auf die Sektionen dezentralisiert sein soll. Wobei es selbstverständlich
ist, daß der Anteil dieser Sektionen an der allgemeinen Verwaltung
der Gewerkschaft gleich sein muß. D.h. der einzelne in einer
Sektion soll mit gleichen Anteilen an den allgemeinen Ausgaben der
Gewerkschaft beteiligt werden, wie alle anderen der einzelnen Sektionen
auch.
Ausweitung der Gewerkschaftsausgaben
Die Gewerkschaft ist keine Organisation, die in vier Wände eingeschlossen
ist. Die Gesamtheit der Gewerkschaft erstreckt sich vielmehr auch
über den sozialen Raum hinaus auf die Straße, die Fabrik,
die Wertstatt, das Büro usw. Es erscheint uns wichtig, das vorher
gesagte noch durch einiges die organische Struktur der Gewerkschaft
Betreffende zu ergänzen.
Das Proletariat muß als wichtigstes handelndes Subjekt im Produktionsbereich
den Gewerkschaftsapparat in einer Weise organisieren, daß dieser
Apparat einen Teil seines Standortes und seiner Funktion direkt aus
dem Produktionsbereich bezieht. Im sozialen Bereich wird über
die administrativen Funktionen und über die auszuführenden
Aufgaben entschieden, nachdem die anstehenden Probleme genau geprüft
wurden. Der Ort, diese Entscheidungen auszuführen, ist zum einen
die Straße: Dort müssen die Komitees und Delegierten der
Stadtteile und Bezirke handeln; und zum anderen der unmittelbare Produktionsbereich:
Dort müssen die Fabbrikkomitees und die Delegierten der Sektionen
handeln.
Da das Proletariat ein aktives Subjekt im Bereich der Produktion ist,
so muß eines seiner unmittelbaren Ziele sein, die Kontrolle
über die Produktion zu erobern. Und zwar nicht nur als Recht
auf Information, sondern auch in Bezug auf die technische Leitung
und auf die Verwaltung. Dabei muß etwa die Herstellung schlechter
Produkte ausgeschlossen werden - hier übernimmt das Proletariat
eine große soziale Verantwortung.
Aber auch solange die Fabriken noch nicht erobert worden sind, haben
die Fabrikkomitees und die Delegierten der Sektionen einige wichtige
Aufgaben zu erfüllen:
Sie müssen das Verbindungsglied zwischen jenem Teil der Gewerkschaft
bilden, dessen Aufgaben im sozialen Bereich liegen und jenem anderen
Teil, dessen Standort direkt in der Fabrik ist.
Außerdem müssen diese Komitees und Delegierten ihr Augenmerk
darauf richten, daß alle - Bosse und Arbeiter - die allgemeinen
Arbeitsbedingungen, die Persönlichkeit des einzelnen und die
Gemeinschaft aller Arbeiter respektieren. Zudem sollten sie noch die
Arbeiter im Produktionsbereich für die Gewerkschaft gewinnen.
Auf der anderen Seite sind die Fabrikkomitees, die Komitees und Delegierten
aus den Stadtteilen und Bezirken der Lebensnerv der Gewerkschaftsorganisation,
wenn sie richtig handeln. Viele Erfahrungen haben uns gezeigt, wie
unbeständig unsere kollektive Arbeit ist. Ein mehr oder weniger
schwerer politischer oder sozialer Konflikt oder schon ein drohender
hat meist für die Herrschenden ausgereicht, die Arbeit der Gewerkschaften
im sozialen Bereich einzuschränken oder ganz zu verbieten. Wenn
diese Beschränkung längere Zeit andauerte, hat sie immer
die Massen zersplittert und manches Mal sogar beinahe die Gewerkschaften
völlig zum Verschwinden gebracht. Der Grund hierfür war
nicht zuletzt, daß die gewerkschaftlichen Aktivitäten sich
weitgehend auf den sozialen Bereich beschränkten und sobald dieser
begrenzt wurde, jede Arbeit aufhören mußte. Diese Maßnahmen
der Herrschenden waren bis jetzt so erfolgreich, daß sie nur
systematisch eingesetzt werden.
Von daher sollte der Druck auf die Gewerkschaft ausgeübt werden,
damit sie sich zur Straße und zum Produktionsbereich direkt
hin ausweitet. Denn wenn die gewerkschaftlichen Einrichtungen und
Komitees nicht den Kontakt und die Beziehung zu den Komitees und Einrichtungen
der Fabriken, der Stadtteile und Bezirke verlieren, können Beschränkungen
und Verbote der Gewerkschaft nichts ausmachen, so lange sie auch dauern
mögen. Wenn dieser Kontakt und diese Beziehungen aufrechterhalten
werden, ist die Kommunikation der Gewerkschaftsapparate mit den Massen
und umgekehrt gesichert, was man auch an folgendem Beispiel sehen
kann.
a) Die Fabrikkomitees und die Delegierten der Sektionen haben ständigen
Kontakt mit den Massen ihrer entsprechenden Industriezweige. Dort
können sie die Ziele und Initiativen der Massen aufgreifen und
gleichzeitig die Beschlüsse der Gewerkschaft vermitteln.
b) Das Komitee des Stadtteils oder des Bezirks hat ständigen
Kontakt mit den Fabrikkomitees der Gegend, denen es die Beschlüsse
und Anregungen der Gewerkschaft und die Meinungen der Arbeitermassen
des entsprechenden Stadtteils oder Bezirks übermittelt.
c) Das Gewerkschaftskomitee und die Räte der Berufszweige halten
ebenfalls ständigen Kontakt untereinander und intensive Beziehungen
zu den Stadtteil- und Bezirkskomitees, von denen sie wiederum die
entsprechenden Meinungsäußerungen von der Basis erhalten.
Diese werden von beiden Komitees aufgenommen und beraten. Die Beschlüsse
gelangen über die Stadtteil- und Bezirkskomitees und über
die Fabrikkomitees zu den Delegierten der Sektionen. Von dort aus
gelangen sie zur Basis, wo sie angenommen oder verworfen werden können.
d) In Ausnahmezeiten ist es meist angebracht, Versammlungen zu vermeiden.
Deshalb delegieren die Stadtteil- oder Bezirkskomitees eines ihrer
Mitglieder, um mit der Gewerkschaft Kontakt aufzunehmen.
Dieses Verfahren ist sicher etwas kompliziert und nicht recht mit
den Prinzipien der Föderation vereinbar. Aber es darf nicht vergessen
werden, daß diese Maßnahmen nur für Ausnahmesituationen
empfehlenswert sind: für Situationen also, in denen die Gewerkschaften
nicht in der Lage sind, legal in der Öffentlichkeit zu agieren,.
Diese Abstinenz ist jedoch immer bestimmt von unvermeidbaren Umständen
und darf niemals freiwillig eingeführt werden, es sei denn es
gibt ausreichend Gründe, die eine solche Untergrundarbeit nahelegen.
Aber die Arbeit der Fabrik-, Werkstatt-, Arbeitsräume -, Bürokomitees,
wie die der Stadtteil- und Bezirkskomitees hat noch andere Aspekte
von größerer Tragweite. Bis jetzt haben wir deren Bedeutung
nur im Rahmen des Gewerkschaftsapparates behandelt. Weiter unten werden
wir noch auf entscheidende revolutionäre Aufgaben dieser Komitees
eingehen, die sie gerade während der Revolution einnehmen.
Industrieföderationen
Unserer Ansicht nach war es ein schwerer Fehler, auf dem Kongreß
im "Teatro de la Comedia" (Anmerkung: Kongreß von
Madrid 1919. Hier wurde zum einen die Vereinigung mit der sozialistischen
Gewerkschaft, U.G.T., diskutiert und abgelehnt und zum anderen die
Diskussion über die Schaffung "nationaler Berufsföderation"
wieder aufgenommen. Diese Föderationen unterscheiden sich aber
von den späteren Industrieföderationen, was im vorliegenden
Text von Peiró selbst etwas untergeht. Das Konzept der Berufsföderation
wurde auf dem Kongreß mit großer Mehrheit abgelehnt. S.
dazu auch: Santillán, Contribución a la Historia del
Movimiento obrero espanol, Bd. II Mexico 1962, S.221 ff ) die
Abschaffung der Industrieföderation zu beschließen. Ihre
Existenz wäre in keiner Weise mit den sogenannten "sindicatos
unicos" unvereinbar gewesen. Wenige können sich heute erklären,
warum der Kongreß so entschied. Hier war ein Organ geschaffen
worden, das Arbeiter auf beruflicher Ebene zusammenfassen sollte.
Es war eigentlich klar, daß die Industrieföderationen die
nationalen Bindeglieder für die Industrie- und Berufsbereiche
sein sollten. Kein noch so extremer Föderalismus kann die Tatsache
beschönigen, daß hier allgemeine Möglichkeiten der
Gemeinschaft zerstört wurden, die über lokale Verkürzungen
hinausweisen. Dabei stand die Diskussion unter dem vorgeblichen Bemühen,
der Gewerkschaft eine größere Bedeutung beizumessen.
Sicherlich bestanden einige der damaligen Industrieföderationen
zu einem überwiegenden Teil aus Zentralisten, die den Apparat
durchaus beeinflußt haben. Aber das konnte nicht der Grund für
die Zerschlagung der auf nationaler Ebene organisierten Berufszweige
und Industrien sein - noch viel weniger dafür, nationale Positionen
einzunehmen und Regeln ohne möglichen Ausnahmen aufzustellen.
Die Umstände waren damals für sachliche Überlegungen
nicht günstig. Viele - durchaus mit guten Absichten - meinten,
die Welt hänge von ihrem Willen ab und berücksichtigten
dabei nicht, daß über diesem guten Willen immer noch die
Realität bereits die nationale Organisation der Bourgeoisie in
Industrieverbänden war.
Einer der nationalen Organisation der Bourgeoisie entspricht zweifellos
ein nationaler Zusammenschluß der Arbeiter auf industrieller
Ebene. Andernfalls gibt es weder eine Möglichkeit, der Bourgeoisie
entgegenzutreten noch ihr in irgendeiner Weise Widerstand zu leisten.
So sah es auch der III. Kongreß der I.A.A., der kürzlich
in Lüttich stattfand (Kongreß der Internationalen Arbeiter-Assoziation
von 1928), obwohl er dazu keine endgültige Resolution verabschiedet
hat.
Die kapitalistische Bourgeoisie beschränkt sich nicht allein
auf ökonomisch - industrielle Konzentration und auch nicht auf
die Bildung von nationalen Verbänden, sie überschreitet
diese Grenze vielmehr. Die Bourgeoisie schließt sich in internationalen
Organisationen und "Entents" zusammen und es wäre absurd, auch
nur einen Augenblick anzunehmen, dies entspräche lediglich dem
ökonomischen Anliegen zur Aufrechterhaltung der Produktion.
Für das Bewusstsein des Kapitalisten ist es entscheidender, sich
als soziale Klasse zu verteidigen. Sie wissen, dass die Folgen des
Krieges (1. Weltkrieg, d. Ü.) ihre eigene Existenz in große
Gefahr gebracht haben und wissen auch, dass sich diese Gefahr immer
mehr verringert je mehr das Proletariat versklavt, je stärker
der Kapitalismus ist - nicht so sehr im ökonomischen Sinne, sondern
vielmehr als Klasse.
Die Organisationen und "Entents" der Bourgeoisie verteidigen ihre
Macht auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der Produktion - zum Nachteil
der kollektiven Interessen - gegen unabhängige Regierungen, die
in ihrem Konzept lediglich als Mandatsträger des Kapitals verstanden
werden. Auf der zweiten Ebene verteidigen sie sich gegen die Forderungen
und revolutionären Tendenzen des Proletariats, das sich nicht
mehr mit des Brotsamen, die man ihnen geben will, abspeisen lässt,
sondern das seine völlige Befreiung betreibt.
Die Bourgeoisie der Textilindustrie von Sabadell kümmert es z.
B. wenig, wenn die Arbeiter dort rebellieren oder streiken. Da sie
organisatorisch und über einen Pakt mit Textilbetrieben anderer
Orte zusammen-geschlossen ist, erhält sie aus Barcelona, Alcoy,
Béjar usw. die nötige Hilfe, um sich nicht auf Kompromisse
einlassen zu müssen und den Streiks so lange zu widerstehen,
bis die Arbeiter praktisch ausgehungert sind. Es handelt sich in diesem
Fall um eine nationale Aktion der Bourgeoisie gegen eine Aktion der
Arbeiter einer einzigen Stadt oder wenn man so will, eines Bezirks,
einer Region. In jedem Fall ist die Unterlegenheit der Arbeiter offensichtlich.
Die einzige Lösung, die sich hier anbietet, ist die nationale
Industrieföderation. Nur so können die Arbeiter auf eine
relativ gleiche Stufe mit der Bourgeoisie gelangen.
Die gleichen Gründe könnten wir aufführen, um die Notwendigkeit
der internationalen Industrieföderation zu erläutern. Zu
einer solchen Ausdehnung zwingen uns die "Trusts und Kartelle" des
Kapitalismus. Aber diesen Aspekt wollen wir hier nicht eingehender
diskutieren.
Wichtig ist es jetzt die Arbeiter von der Bedeutung der Zusammenarbeit
der Bourgeoisie, wie wir es in unserem Beispiel der Textilindustrie
gezeigt haben, zu überzeugen. Wir dürfen dabei nicht vergessen,
dass sich diese Zusammenarbeit nicht auf einen Streikfall, wie wir
ihn gesehen haben, beschränkt.
Wenn die Bourgeoisie der Textilindustrie von Alcoy die Arbeitsbedingungen
aufkündigen will, braucht sie nur ihre Arbeiter auszusperren.
Das ist nicht schwer, weil die Bourgeoisie in den übrigen Gebieten
bereit sein wird, jede Art Hilfe zu gewähren, bis sie in Alcoy
gesiegt haben. Wenn die Bourgeoisie in Barcelona die starke kollektive
und revolutionäre Arbeiterbewegung in der Textilindustrie zerstören
will, wird sie dem Beispiel Alcoys folgen und die Arbeiter der anderen
Industriegebiete werden bewusst oder unbewusst zur Unterdrückung
ihrer eigenen Genossen beitragen.
Aber neben diesen mehr oder weniger häufig auftretenden Maßnahmen
gibt es noch das Problem der Konkurrenz, die die Arbeiter eines Industriegebietes
den Arbeitern eines anderen machen. Dies trifft etwa auf die Arbeiter
der Werkzeug- und Textilindustrie in Katalonien zu. Die Arbeiter der
Bezirke in den Bergen waren schon immer ein unüberwindliches
Hindernis für die Arbeiter in den Ebenen. Die Durchsetzung ihrer
Forderungen wurde immer durch die wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen
in den Bergen erschwert - nicht allein in ökonomischer Hinsicht,
sondern auch in Bezug auf die Arbeitszeit und verschiedene andere
berufliche Aspekte. Und dasselbe, was wir von diesem Industriezweig
sagen, kann man auch von allen anderen Industriezweigen sagen, bei
denen sich die allgemeinen Arbeitsbedingungen durch Entfernungen und
die geographische Situation wesentlich unterscheiden.
Die nationalen Industrieföderationen sind die geeigneten Organe,
um solche Mängel zu beheben. Sie haben praktisch bewiesen, dass
man nur über sie zu einer Einheit oder zur Gleichstellung der
Allgemeinen Arbeitsbedingungen in der Industrie sprechen , meinen
wir gleichzeitig alle Berufssparten. Wir können darüber
hinaus noch Beispiele anführen, die beweisen, dass die Föderation
in jeder Hinsicht das Beste Organ ist, um der Bourgeoisie in allen
Belangen Widerstand zu leisten.
Vor allem wenn wir die Haltung des Kapitalismus genau studieren, werden
wir immer mehr die Notwendigkeit der nationalen Industrieföderation
einsehen.
Aber man muss auch betonen, dass diese Industrieföderationen
in keinem Fall die Autonomie der einzelnen Gewerkschaften absorbieren
dürfen. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass sobald diesen die
Autonomie geraubt wird, die Föderation zu einem wirkungslosen
Instrument wird. Die Föderation muss immer ein Organ sein, das
von den allgemeinen Interessen der einzelnen Berufe ausgeht. Hierin
müssen sowohl die ökonomischen und technischen Bedingungen,
die Regelung und Humanisierung der Arbeit enthalten sein, als auch
viele andere Bedingungen kreativer und sozialer Art. Dies alles wird
frei bestimmt und geprägt furch die direkt gewählten Vertreter
der Gewerkschaften, die in Kongressen und nationalen Versammlungen
zusammenkommen.
Die einzelnen Gewerkschaften sind in jedem Fall verpflichtet, die
Entscheidungen zu respektieren und zu erfüllen, die sie auf der
nationalen Ebene gefällt haben. Sie sind aber zugleich frei,
jede für sich, Initiativen aller Art zu ergreifen und Vorstellungen
zu entwickeln, die selbstverständlich nicht den allgemeinen Interessen
der Föderation widersprechen dürfen. Es gibt kein föderalistisches
Prinzip, das den einzelnen Partner freistellt, ohne vorherige eingehende
Begründung einen Pakt zu brechen, den sie in völliger Freiheit
geschlossen haben. Aber alle föderalistischen Prinzipien lassen
jedem Teil offen, den einmal geschlossenen Pakt zu verbessern oder
allgemeinen Interessen des Kollektivs anzupassen.
Eine Gewerkschaft hat das Recht, in Übereinstimmung mit der Föderation,
die Kräfte und Aktivitäten in den Betrieben zu entfalten,
die sie für sinnvoll hält, ohne dass dadurch ihre Verpflichtung
zur Solidarität mit der ganzen Föderation erlischt. Die
Solidarität kann zwar innerhalb der Föderation eingeschränkt,
aber niemals negiert werden.
Die Gewerkschaften sind innerhalb der proletarischen Bewegung frei,
sich mit anderen Gewerkschaften anderer Industriezweige zusammenzuschließen,
um mit ihnen gemeinsame solidarische Aktionen zu verwirklichen oder
sich gegen die Justiz zu verteidigen. Sie sind aber zugleich den entsprechenden
lokalen Föderationen und den höheren Organen, wie der Konföderation
der jeweiligen Region und der C.N.T., verpflichtet.
Neben ihren administrativen Funktionen haben die föderalistischen
Komitees lediglich die Aufgaben, Beziehungen der nationalen Bewegung
untereinander herzustellen und zu koordinieren. Außerdem sind
sie Mandatsträger für die Organisierung des Kampfes und
der Solidarität.
In zentralistischen und ineffizienten Föderationen kommen sämtliche
Initiativen und die Macht vom Mittelpunkt, von den Komitees. Von dort
werden sie zur durch die Gewerkschaft repräsentieren Peripherie
getragen. In den von uns vorgeschlagenen Föderationen läuft
der Informationsfluss im weitesten Sinne föderalistisch: die
Macht, die Initiativen, die Leitung, alles kommt von der Peripherie
zum Mittelpunkt, vom "Teil" zum "Ganzen". Hiermit erhält man
die Eigenheiten und die Freiheiten von allen aufrecht - von den Gewerkschaften
und von der Föderation. Deshalb ist die Föderation die Zusammenfassung
und der Ausdruck des Willens aller.
Die nationale Industrieföderation ist also nicht mehr als ein
Pakt universeller Solidarität gegenüber der Gruppierungen
des Kapitalismus.
Ziele und Aktionen des Syndikalismus
Der Syndikalismus beschränkt sich nicht allein darauf, ökonomische
und soziale Verbesserungen zu erreichen - wie Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung,
Berufsordnung, Sauberkeit und Sicherheit am Arbeitsplatz, kollektive
Verträge usw. -, sondern er bildet insgesamt eine Opposition
gegen den Kapitalismus und den Staat.
Der revolutionäre Syndikalismus, als organisches Instrument in
den Händen des Proletariats, ist durch intellektuelle und geistige
Beiträge der Anarchisten entwickelt und definiert worden. Er
kämpft für die Befreiung der Arbeiter von ihren unmittelbaren
Unterdrückung aller Art, sei es die des Kapitals oder des Staates,
und kämpft in erster Linie für die entgültige ökonomische,
politische und soziale Befreiung der Menschheit. Eine klare Interpretation
der syndikalistischen Ideen und der Umsetzung der wichtigsten Postulate
in der Praxis wird ausreichen, um selbst den Skeptischsten unsere
Ziele zu verdeutlichen. Unsere wichtigsten Postulate gehen auf sozio
- ökonomische Erkenntnisse, auf die Einschätzung der Politik
und der Psychologie der Völker zurück. Den Lohn, die Freizeit,
die Arbeitsregelung, die Achtung vor dem einzelnen Arbeiter und dem
Kollektiv, die Gesundheit und das Leben - all das erkämpft und
sichert man am Besten durch den Syndikalismus. Er ist auch das geeignetste
Instrument, um mit Erfolg die Aktionen der Parteien zunichte zu machen
und die Berufspolitiker zu verbannen.
Wenn wir von allgemeiner Opposition gegen den Kapitalismus reden,
heißt das für uns, dass wir dem Kapitalismus den Respekt,
die Moral und die Verantwortung gegenüber dem Proletariat und
der sozialen Gemeinschaft aufzwingen. Wenn wir von der allgemeinen
Opposition gegenüber dem Staat reden, meinen wir entsprechend,
dass die gewerkschaftlichen Aktionen und die direkten Aktionen des
Proletariats eine nützliche Waffe sind, die Beschlüsse der
Regierungen rückgängig zu machen und die entsprechenden
Ziele der Gewerkschaften durchzusetzen. Die Gewerkschaften sind die
echten Repräsentanten des Willens und der Interessen der Arbeiter.
Außerdem sollen diese gewerkschaftlichen Aktionen alle Anschläge
auf die Gerechtigkeit und die Freiheit neutralisieren.
Wir haben hier ausführlich die einfachen und unmittelbaren Ziele
der Gewerkschaften aufgezeigt.Sie sollen mit Streiks, Boykotts und
Sabotage durchgesetzt werden. Wir wollen hier nicht die Bedeutung
der drei Kampfmethoden erklären, aber es erscheint uns notwendig,
einige Bemerkungen über den Streik zu machen. Sie erscheinen
deshalb notwendig, um die vielen Möglichkeiten zu verstehen,
die wir innerhalb der direkten Aktion im Kampf gegen die Unternehmer
haben.Die Streikerfolge hängen von den ökonomischen Bedingungen
ab. Die Arbeiter werden in einem prosperierenden Industriezweig sehr
viel leichter siegen als in einem anderen. Sie müssen das vor
dem Streik beachten. Außerdem müssen die Chancen, den Widerstand
der Bourgeoisie erfolgreich zu brechen, berücksichtigt werden,
denn mit ihm muß man immer rechnen. Diese Vorschläge sind
keine dogmatischen Vorschriften, sie sind vielmehr aus der Realität
heraus entwickelt und praktisch erprobt worden.Unter den Anarchisten
und Syndikalisten war es eine schlechte Angewohnheit - und ist es
vielleicht heute noch -, diese Ansätze als schlechte marxistische
Theorie abzuqualifizieren. Denn wenn ein Streik zu einem Zeitpunkt
ausbricht, der für die Industrie relativ ungünstig ist,
wird er sehr oft Probleme lösen, an deren Lösung lediglich
die Bourgeoisie interessiert sein kann. Im besten Falle wird ein ungeeigneter
Streik die Widerstandsmöglichkeiten der Bourgeoisie erleichtern,
den Widerstand der Arbeiter dagegen erschweren oder unmöglich
machen. In diesem Falle könnten die Arbeiter, sehen sie einmal
ihre Angelegenheiten in Gefahr oder gar verloren, nach einer dritten
Hand rufen, nach den Regierungen oder ihren Repräsentanten, wodurch
die Möglichkeiten direkter Aktionen in Frage gestellt würden.Wird
dagegen in einer Situation gestreikt, in der der Handlungsspielraum
für die Arbeiter größer ist, der Streik zudem noch
gut vorbereitet ist, dann wird trotz der Widerstandsmöglichkeiten
der Boureoisie deren Kraft bald nachlassen. Sie ist entscheide d durch
die Notwendigkeiten der Betriebe eingeengt. Sie wird einlenken und
nachgeben , auf autoritäre Eingriffe oder offizielle Institutionen
zurückgreifen. Ihr Eingreifen kann aber mißachtet werden
und muß es sogar, weil die Arbeiter im Vorteil sind.(...)
Direkte Aktion Man hat bei uns die Bedeutung der direkten Aktion
so sehr vereinfacht, daß unsere Gegner hier sehr leicht Gründe
finden, uns abzuqualifizieren. Allgemein gibt man der direkten Aktion
folgende Bedeutung: "Sie soll die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit
lösen, die Bosse und die Arbeiter direkt betreffen, wobei von
Autorität abgesehen wird."(...)Im wesentlichen bedeutet "direkte
Aktion" "Aktion der Massen". Die Arbeitermassen sind aber nicht nur
von den Problemen betroffen, die zwischen Kapital und Arbeit entstehen,
sondern auch von den Fragen des öffentlichen und sozialen Lebens,
seien sie nun sozialer, politischer, juristischer, administrativer,
kultureller Art, oder mögen sie sich auf die Justiz und die Freiheit
beziehen. Wenn also gesagt wird, durch die direkte Aktion sollen die
beruflich-ökonomischen Konflikte direkt mit der Boureoisie -
unter Mißachtung der Autorität - gelöst werden, muß
mit "direkter Aktion" auch "direkt" in Konflikte mit der Autoriät
und mit dem Staat, mit der Stadtverwaltung oder jeder anderen Körperschaft
eingegriffen werden.Wir werden das an einigen Beispielen sehen. Nehmen
wir an, daß die Regierung ein Arbeiterzentrum schließt
oder Arbeiter willkürlich festnehmen läßt . Es wäre
sicherlich unsinnig, von der Boureoisie zu verlangen, sie solle die
Aufhebung des Verbots oder die Entlassung der Gefangenen verfügen,
denn das natürlichste und direkteste wäre es, unmittelbar
zur Regierung zu gehen, die solches angeordnet hat.Wir geben zu -
ist es überhaupt noch nötig, dies zuzugeben? -, daß
es Gesetze gibt, die die legitimen Interessen des Proletariats verletzen
oder die ein Hindernis für den politisch - sozialen Fortschritt
des Volkes sind. Wenn es naiv ist, Abgeordnete ins Parlament zu schicken,
damit sie dort Reformen oder die Abschaffung schädlicher Gesetze
erreichen, dann ist es genauso unsinnig, sich mit solchen Anliegen
einfach an die Boureoisie zu wenden. Das Proletariat selbst muß
sich direkt mit den Regierungen auseinandersetzen und sie zu Reformen,
zur Abschaffung von Gesetzen oder Dekreten zwingen, die den Interessen
des Proletariats entgegenstehen oder den Prozeß der politisch,
sozialen Veränderung der Gesellschaft behindern.(...)Wir wissen,
daß dies "Politik machen" bedeutet. Hiergegen gehen die Väter
der anarchistischen Kirche wie gegen ein Gespenst an, als ob die anarchistische
Doktrin ein Dogma sei und exklusiv den universellen Prozeß der
Geschichte bestimmt. Deshalb wollen wir, bevor wir mit den Beispielen
fortfahren, ein historisches Ereignis wieder in Erinnerung rufen,
daß heute noch den revolutionären Syndikalismus der C.N.T.
in Spanien bestimmt.Die "Federación Regional Espanola" (Spanische
Sektion der ersten Internationalen Arbeiter-Assoziation) war ein proletarisches
Organ des Klassenkampfes, wie es in unseren Tagen die C.N.T. ist.
Die "Seele" dieser Organisation waren aktive und intelligente Menschen,
die allgemein als "Internationalisten" bekannt waren. Sie traten mit
großem Eifer für die anarchistischen Ideen ein. Sie waren
vor allem von Bakunin inspiriert. Jeder, der ihre Tätigkeiten
kennt,weiß, daß die "Internationalisten" des vergangenen
Jahrhunderts sich nicht verzettelt haben, sondern direkt an der Wurzel
des sozialen Übels ansetzten. Sie griffen deshalb alle Probleme
der Gesellschaft auf.Sie nannten sich "anti - politisch", weil sie
damit ihre Abneigung gegenüber dem Parlamentarismus und den betrügerischen
demokratischen Systemen ausdrücken wollten, die über politische
Revolutionen an die Macht gekommen waren. Aber sie taten nicht so,
als ob sie die politischen Probleme nichts angingen. Diese Männer,
deren Kultur mehr als einmal als Maßstab für intellektuelle
Kraft ihrer Zeit genommen wurde, entging nicht, daß in jedem
politischen Problem ein ökonomisch - soziales Problem steckt.
Sie wußten außerdem, daß diese Schwierigkeiten die
Ursache für eine ganze Reihe von moralischen und geistigen, juristischen
und humanen Problemen ist, die das Rückenmark der kapitalistischen
Gesellschaft bilden.Deshalb kämpfte die "Federación Regional
Espanola" sowohl bei ökonomischen Auseinandersetzungen als auch
gegen die Erbschafts- und Eigentumsgesetze gegen das Eherecht und
die Gesetze über die staatlich - kirchlichen Beziehungen, gegen
die Monarchie usw. usw. Ihre unermüdliche Kritik und ihr humanes
und grundsätzliches Programm brachte ihr den Haß der privilegierten
Klassen ein. Diese fanden keine andere Waffe, das politisch - soziale
Programm der Internationalisten anzugreifen, als ihm vorzuwerfen,
es sei unmoralisch und antisozial, und die Internationalisten betrieben
das Banditenwesen. Das haben im Übrigen ein halbes Jahrhundert
später auch jene getan, die in Rußland die soziale Revolution
abgewürgt haben.Es ist also offensichtlich, daß auch die
Internationalisten -alles Anarchisten und inspiriert von Michael Bakunin-
"ihre Politik" gegenüber der Politik des Kapitals und der Bourgeoisie
machten. Es ist genauso offensichtlich, daß sie die Politik
auf ihre Art und Weise verstanden und sie "mit dem Mittel der direkten
Aktion des Proletariats realisierten". So kann es nur töricht
sein, wenn man nicht an die "direkte Aktion als politische Waffe des
revolutionären Proletariats" glaubt.Außerdem haben sich
die Internationalisten niemals als "obreristas" verstanden. Ihr größter
Stolz war es, sich Anarchisten zu nennen und die sich so nannten,
verstanden sich als anti - politisch und den Anarchismus als eine
politisch - soziale Doktrin.Auch wir, die wir uns als Nachfolger dieser
Bewegung verstehen, und deren revolutionärer Syndikalismus heute
die Basis für die C.N.T in Spanien ist, wir bekennen uns zu dieser
politisch - sozialen Doktrin, und wir machen in diesem Sinne "Politik",
so wie es die großen Internationalisten des 19. Jahrhunderts
gemacht haben.
Setzen wir die Beispiele fort
Nehmen wir an, das Proletariat hat gerade eine Zeit starker Sanktionen
der Justiz und Repressionen hinter sich. Unterstellen wir weiter,
daß diese Tatsachen es notwendig machen, eine Kampagne für
die Amnestie und die Revision der Sonderprozesse anzusetzen. Es würde
in diesem Falle nicht genügen, die Kampagne auf die Presse und
auf die Tribüne zu beschränken, um dort ein günstiges
Klima für die verfolgten Ziele zu erreichen. Darüber hinaus
muß die Kampagne die größtmögliche Ausbreitung
finden, indem die Gewerkschaften hier verstärkt eingreifen. Aber
nicht wie so oft, indem die Komitees und andere Organe Telegramme
und Eingaben abschicken,in denen Amnestien oder Revisionen der Urteile
verlangt werden, sondern indem Vollversammlungen und öffentliche
Versammlungen einberufen werden, an denen die Massen beteiligt sind
und sich äußern können. Hier müssen Beschlüsse
gefaßt werden, die die Haltung der Massen gegenüber der
Justiz und ihren Freiheitswillen ausdrücken.Wenn so die Kampagne
auf verschiedenen Ebenen intensiv geführt wird und dadurch die
Aufmerksamkeit Aller gewinnt, werden sich die Regierungen gegen sie
stellen müssen. Aber wenn die Organisationen aller Arbeiter,
von der öffentlichen Meinung getragen, stark genug sind, wird
die Kampagne den Regierungen soweit zusetzen, daß sie endlich
nachgeben und sich mit den Forderungen der Massen einverstanden erklären
müssen, weil sie andernfalls politische Schwierigkeiten befürchten.
(...)Nehmen wir an, die Regierung beabsichtige eine Einkommenssteuer
auf die Taglöhne der Arbeiterklasse einzuführen und unterstelllen
wir außerdem, daß diese gut organisiert ist. Nehmen wir
nun weiter an, daß die studierten Militanten dieser Organisation
das Unrecht dieses Projekts aufzeigen und in den Gewerkschaftsversammmlungen
Alarm schlagen. Sie demonstrieren den Massen, daß diese Taglöhne
nicht nur unzureichend sind, um ein Existenzminimum zu garantieren,
sondern der Taglöhner für seine Arbeit nicht entsprechend
entlohnt wird. Wenn wir außerdem noch unterstellen, daß
über den energischen Protest der Gewerkschaftsversammlungen hinaus,
diese Organisation mit einer großangelegten Kampagne gegen die
Einkommenssteuer an die Öffentlichkeit tritt, die zuletzt in
einem Generalstreik gipfelt:
Was wird dann geschehen? Es ist ziemlich sicher, zumindest aber wahrscheinlich,
daß die Regierung ihre Fehler eingestehen und von dem Projekt
Abstand nehmen muß, wie es zum Beispiel die Regierung Maura
1908 tun mußte. Sie wich damals dem Druck des Volkes und mußte
das berühmte Repressionsgesetz gegen den Terrorismus fallenlassen,
das damals nur geschaffen wurde, um die individuellen Freiheiten einzuschränken.
(...)
Ziele des Syndikalismus
Nehmen wir an, daß Proletariat hat nach einem Generalstreik vollständig
gesiegt. Nach diesem großen Ereignis ist die Organisation der Produktion
die dringendste und nicht aufschiebbare Aufgabe: Nicht nur, damit
die Wirtschaft den geringst möglichen Schaden erleidet, sondern auch
um den Sieg der Revolution zu sichern. Diese Aufgaben kann niemand
anders aufgetragen werden als den Komitees der Fabriken, Werkstätten
usw. Sie sind aufgerufen, die entsprechenden Produktionszentren zu
übernehmen und sie wieder in Betrieb zu setzen.
Mit diesem Schritt endet die revolutionäre Rolle der Gewerkschaften.
Von diesem Moment an wird der Syndikalismus zu einem sekundären Faktor
- wir dürfen dabei allerdings nicht die Bedeutung der Ökonomie in
der Gesellschaft vergessen. Das wichtigste ist jetzt die Kommune,
der Schnittpunkt aller individuellen, moralischen und ökonomischen
Werte der Gesellschaft.
Wenn dagegen der Syndikalismus als wichtigster Wert, als Garant einer
neuen Gesellschaft akzeptiert wird, werden wir zugleich sehen, daß
er eine Vielzahl von Industriebereichen repräsentiert, die den gesamten
Bereich der Wirtschaft abdecken. Von diesem Pluralismus geht aber
eine beträchtliche Gefahr für die Gesellschaft aus. Es gibt Basisindustrien
und es gibt Zulieferindustrien, die beide voneinander abhängig sind.
Es gibt einige, die nützliche und größer sind als andere. Wenn man
nun die menschlichen Fehler mit berücksichtigt, wäre es möglich, daß
die wichtigeren Industriezweige andere unterjochen. Von daher erklärt
sich die Wichtigkeit der Kommune als Bindeglied. Hier laufen nicht
nur die wirtschaftlichen Beziehungen der Landwirtschaft und der Industrie
zusammen, sondern in der Kommune drücken sich auch die allgemeinen
Interessen der Gesellschaft aus.
Es gibt aber noch eine andere Gefahr. Wenn wir wieder unser Beispiel
bemühen: Generalstreik in Spanien, die Gewerkschaften übernehmen die
Fabriken, Werkstätten, Bergwerke usw. Sie übernehmen dabei nicht nur
die Organisation der Produktion, sondern auch die Verantwortung über
die Verteilung der Produkte. Dabei würde sich die C.N.T. in den Mittelpunkt
der ökonomisch-industriellen Beziehungen schieben, sie würde das soziale
Zusammenleben regulieren. In diesem Fall einer "ökonomisch-landwirtschaftlichen"
Demokratie fänden wir uns wieder einer Art "Staat" gegenüber,
ohne daß dieser durch irgendeine Klasse getragen würde. Denn der Staat
ist in jedem Fall nur eine Verwaltungsmaschine, die sich in unserem
Beispiel zu einer unumgänglichen gewerkschaftlichen Bürokratie entwickeln
würde.
In der Tat sind dies alles Hypothesen, aber die Entwicklung des Syndikalismus
läßt diese Hypothese nicht unbegründet erscheinen: sowohl in der Art
als auch inhaltlich wäre eine solche Entwicklung ein Angriff auf die
Sache der Freiheit.
Die künftige Gesellschaft wird keine Gesellschaft von Handarbeitern
sein. In ihr werden Handarbeiter auf der einen Seite, Intelektuelle
und andere auf der anderen Seite leben und arbeiten, die alle einer
sozialen Klasse angehören. Wenn die Gewerkschaften die Produktion
und Verteilung der Produkte übernehmen, welches wäre dann die Aufgabe
der Ärzte, der Schriftsteller, Künstler und aller anderen Kopfarbeiter?
Wenn die Zelle der Gesellschaft nicht das Individuum, sondern die
Gewerkschaft ist, müßten die Intellektuellen ihre eigenen Gewerkschaften
oder Korporationen gründen. Es ist erschreckend, sich das vorzustellen.
Denn dann befänden wir uns wieder vor den sozialen Klassen - die offensichtlich
überlebt hätten -, vor dem Problem sozial gegensätzlicher Kasten.
Wenn der große und komplizierte ökonomische, industrielle und landwirtschaftliche
Apparat der Völker die Gewerkschaften auch unersetzlich erscheinen
läßt, dann dürften diese dennoch in der zukünftigen Gesellschaft nicht
mehr als technische Instrumente zur Organisation und Koordinierung
in den verschiedenen Bereichen der Produktion sein. Sie müssen immer
ein Mittel im Dienst der Gesellschaft bleiben. Die Kommunen sind dann
die koordinierenden Organe, in denen durch freie Vereinbarung die
allgemeinen Bedürfnisse der libertären Gesellschaft geregelt werden.
Für alle, die ihre Bemühungen und ihre Intelligenz für die genmeinsame
Sache einsetzen, gilt ohne Unterschied: "Jeder nach seinen Kräften,
jedem nach seinen Bedürfnissen" - "Alle für einen, einer
für alle".
Theorie und Praxis
Die Welt erobert man nicht mit Worten, sondern mit Taten. Wir können
uns nicht daran erinnern, wo wir von Shakespeare gelesen haben: "Die
Worte sind wie Weiber, die Taten wie Männer. Seid Männer und handelt
immer. Ein Fehler beim Handeln ist besser als die gesprochene Wahrheit."
Bis jetzt ist der Anarchismus nicht mehr als ein Kompendium gesprochener
Wahrheiten, ein moralischer und intelektueller Wert, ohne daß er die
Realität tatsächlich durchdringt - oder besser gesagt, Möglichkeiten
und praktische Aufgaben realisiert, die eine künftige Gesellschaft,
und sei es auch nur prinzipiell, antizipieren. Es reicht nicht aus,
von einer neuen Gesellschaft, die zunächst nur eine Minderheit will,
immerzu nur zu reden. Wir müssen mit Taten zeigen, daß die von uns
angestrebte Gesellschaft nicht ein Hirngespinst oder eine Utopie ist,
was die Feinde einer wirklichen sozialen Gerechtigkeit behaupten.
Der Vorwurf an die Adresse der Anarchisten, sie vertrauten nur auf
den gewaltsamen Umsturz, ist zum Glück nur noch vereinzelt zu hören,
denn diese Phase ist tatsächlich der unwichtigste Abschnitt der gesamten
sozialen Revolution. Historisch ist erwiesen, daß die gewaltsamen
und heroischen Taten einer sozialen Revolution mit einem Entwicklungsprozeß
einhergehen, der sich nicht nur im kollektiven Bewustsein ausdrückt,
sondern auch in den neuen Konzepten von sittlichen, juristischen,
politischen und sozialen Werten. Man kann historisch aufzeigen, daß
allen handelnden Kräften - die Kräfte der Massen - in einer Revolution
immer auch kreative Kräfte vorausgehen oder sie begleiten, deren schöpferische
Momente sich vor, in und nach dem gewaltsamen Umsturz gezeigt haben.
Man könnte einwenden, daß die dialektische Protzerei der Enzyklopädisten
und der Hunger des Volkes in Frankreich ausgereicht haben, um die
Große Revolution zu verwirklichen. Aber wir können dagegenhalten,
daß in Frankreich nach der Revolution der Staat, das römische Recht
und die Bourgeoisie unangetastet blieben. Es blieb die wirtschaftlich
soziale Ungerechtigkeit und der Hunger des Volkes, wenn auch vielleicht
etwas verringert. Die neuen bürgerlichen Rechte sind eher nominell
als effektiv. Wir könnten noch ergänzen, daß das französiche Volk
zwar eine große Revolution realisiert hat, sich von dem unheilvollen
Joch des Königshauses und der Aristokratie befreit hat, dann aber
zugleich wieder neue Herscher gekrönt und eine neue Aristokratie geschaffen
hat - vor allem weil es das militärische und kämpferische Genie Napoleon
bewunderte und weil es aus der Praxis keine neuen Formen des politisch
- ökonomisch - sozialen Zusammenlebens kannte, die sein damaliges
kollektives Leben ersetzen könnten.
Aus diesem und tausend anderen Gründen, die man hier noch aufführen
könnte, meinen wir, daß jede revolutionäre Tat steril bliebe, wenn
sie nicht auf einer praktisch-materiellen Basis beruht, d.h. wenn
nicht bereits vorher die Grundlage für das neue ökonomisch-soziale
Gebäude gelegt worden ist, das dann durch die Revolution endgültig
errichtet werden soll.
Ein kurzer Blick auf die Gegenwart zeigt, daß der Anarchismus noch
nicht das theoretische Gebäude verlassen hat. Wir wagen sogar zu behaupten,
daß der Anarchismus, was die praktische Verwirklichung angeht, (wir
wären schon mit den einfachsten Versuchen zufrieden) sehr viel rückständiger
ist, als jede andere politische oder philosophische Schule. Es gibt
sicherlich Gründe dafür. Die Neigung, die Schwierigkeiten dieser praktischen
Aufgabe zu überwinden, ist allerdings nicht sehr groß.
Wir haben versucht, die revolutionären spanischen Anarchisten und
Syndikalisten - ohne auf orthodoxen Prinzipien zu beharren - von der
Notwendigkeit zu überzeugen, daß wir das Genossenschaftswesen wieder
einführen müssen. Sicher hat unsere "Verwegenheit" den Zorn
und den Spott einer ganzen Anzahl von Genossen eingetragen. Kurze
Zeit darauf aber hat sich unbeschadet des Zorns und des Spottes die
nationale anarchistische Konferenz vom Juli 1926 in Valencia mit diesem
Thema befaßt. Seit dieser Diskussion sind die Anarchisten berechtigt,
das Genossenschaftswesen wieder versuchsweise einzuführen.
Diese Befugnis war nicht nötig. Zumindest in Katalonien beteiligten
sich bereits viele Anarchisten, wenn auch nicht als Anarchisten, sondern
als Arbeiter an der kalalonischen Genossenschaftsbewegung, deren Bedeutung
man schwerlich bestreiten kann. (...)
Die Genossenschaftsbewegung ist - was man auch gegen sie einwenden
mag - ein Mittel im Kampf gegen den Kapitalismus: nicht nur als Mittel
im Widerstand, sondern auch als wertvolles Instrument während oder
kurz nach der sozialen Revolution. Wir beziehen uns aber nicht auf
das gegenwärtige Genossenschaftswesen, das völlig seiner Inhalte durch
die staatssozialistischen Modelle entleert ist. Von dieseem geht auch
die Verherrlichung des individuellen Egoismus und das Beschneiden
des revolutionären Geistes der Arbeitermassen aus. (...)
Konkret gesprochen glauben wir, daß der Erfolg der sozialen Revolution
vor allem auf den folgenden drei Faktoren beruht:
a) organisierte Kraft, um den Besitz an Grund und Boden, an Produktionsmitteln
und Werkzeugen, zu erreichen und zu verteidigen
b) technische Vorbereitungen, um die Organisation der Produktion zu
übernehmen
c) ausreichend Vorbereitung, um die Verteilung der Produkte an den
Verbraucher zu sichern
Der erste Faktor müßte sich aus den Umständen ergeben, d.h. als Höhepunkt
des Entwicklungsprozesses. Der zweite müßte sich konsequenterweise
aus den technisch-beruflichen Aufgaben der Gewerkschaften ergeben
- und der dritte kann sich vor und während der Revolution nur in den
Genossenschaften entwickeln. Diese müssen dann abgeschafft werden,
sobald die Kommunen ihre eigenen Organe zur Versorgung und zur Verteilung
der Produkte an den Konsumenten geschaffen haben.
Wir müssen uns heute wieder der Fabrik -, Werkstattkomitees usw. entsinnen.
Bis jetzt haben diese Komitees einen rein administrativen Charakter
gehabt, sie waren lediglich ein Bindeglied zwischen den Gewerkschaften
und den entsprechenden Organen in den Produktionszentren. Ihre Funktion
ist aber viel komplexer und weitreichender. Die objektive Aufgabe
der Komitees in den Fabriken und Werkstätten, in der Landwirtschaft,
im Bergwerk, im Büro - also in den Produktions-, Transport- und Austauschzentren
- besteht darin, die ökonomische Maschinerie des revolutionären Syndikalismus
zu stützen. Die Wirksamkeit dieser Aufgabe muß sich erweisen, wenn
die bürgerliche Technik und die Verwaltung ersetzt wird und an ihrer
Stelle die genannten Komitees treten. Sie wirken dann als Organisatoren
und Verwalter der Produktion. Aber sie erfassen nicht allein die Produktion
selbst, sondern auch die vielfältigen und untereinander zusammenhängenden
Aspekte der gesamten Wirtschaft. Der Erfolg dieser Aufgabe hängt von
dem Beziehungssystem ab, das bereits vor der Revolution zwischen den
Gewerkschaften der verschiedenen Industriezweige und Berufe errichtet
wurde. Die vorherige Errichtung eines solchen Beziehungssystems mit
vorrevolutionärem Charakter muß auf den Prinzipien einer sozialen
Doktrin beruhen, die als Orientierung und Antrieb beim Ausbruch der
Revolution dient. Die Anarchisten sollten wissen, daß die geistige,
materielle und richtungsweisende Zusammensetzung dieser Komitees eine
außerordentliche intensive Aufmerksamkeit der spezifischen Gruppen
bedarf.
Sie sollten vor allem während der revolutionären Periode versuchen,
diese Komitees mit fähigen Leuten zu besetzen, die in der Lage sind,
die revolutionären Ziele zu verwirklichen.
Wenn man die große Verantwortung dieser Komitees betrachtet, wird
man verstehen, daß sie über ihre derzeitige Zusammensetzung hinaus
mit ausreichendem technisch-beruflichen Material ausgestattet werden
um ihre revolutionären Aufgaben zu erfüllen. Um ehrlich zu sein ist
das etwas, was man bisher vernachlässigt hat.
Im Einzelnen könnte man sagen, daß dieser technisch-beruflichen Aspekte
unbedeutend bleiben, wenn nicht zumindest teilweise auf die Wirtschaftsgeographie
zurückgegriffen wird. Eine Wirtschaftskarte etwa könnte die Rohstoffquellen,
die Zentren der Produktion und des Konsums verzeichnen. Es müßte ein
Konsumindex für Rohstoffe, die Handarbeit und anderen Produktionsfaktoren
aufgestellt werden. Diese Aufgaben sind unbedingt wichtig, um die
Produktionskosten mit den Lebenshaltungskosten zu vergleichen. Die
Wirtschaftsgeographie ist vor allem ein Problem der Statistik, deren
Bedeutung als orientierende Faktoren in den anarchistischen Kreisen
so sehr von denen verschmäht werden, die sich heute Leiter der C.N.T.
nennen.
Mit diesen kurzen Hinweisen können wir uns dem zuvor bereits angekündigten
Faktor b) praktisch zuwenden.
Die Genossenschaft ist unbestreitbar ein Mittel zur Distribution.
Sie ist für die Anarchisten ein notwendiges praktisches Mittel, um
den Massen die Gewißheit zu geben, daß wir die Bedürfnisse vom ersten
Moment einer endgültig revolutionären Entwicklung an mit berücksichtigen.
Mit gut ausgerüsteten Fabrikkomitees usw. können wir die Neuordnung
der Produktion sichern und sie nicht dem Zufall überlassen. Zugleich
haben wir alle Möglichkeiten in der Hand, die Produkte über die Genossenschaften
an den Verbraucher zu verteilen. Aber die Genossenschaft ist kein
leicht zu handhabendes instrument. Er erfordert wirtschaftliche Praxis,
man muß sich jetzt nicht mehr mit Händlertricks auskennen, sondern
mit der Wirtschaftsgeographie, die man eher in der Praxis erfassen
kann als in der simplen Theorie.
Das dürfte ausreichen um die Lösungswege für die Probleme anzugeben,
die der Faktor c) aufgibt.
Wir Anarchisten müssen im Rahmen des Möglichen auch in der kapitalistischen
Welt unser eigene Welt aufbauen, aber nicht auf dem Papier, mit Lyrik
oder in philosophisch-hochtrabender Nachtarbeit, sondern auf dem Boden
der Praxis, indem wir das Vertrauen in unsere Welt von heute und von
morgen wecken.
Denn das Vertrauen, das wir in den proletarischen Massen wecken, steht
in direkter Beziehung zu den Möglichkeiten, eine organisierte Kraft
zu bilden, die den Grund und Boden, alle Produktionsmittel und Werkzeuge,
den Konsum, den Transport und den Handel übernimmt und verteidigt.
Die Anarchisten und das Organisationskonzept
Unsere Vorstellungen vom Anarchismus entfernen sich von der traditionellen
individualistischen Konzeption und beziehen kollektivistische Elemente
mit ein. Diese Aspekte sollen hier konkretisiert werden.
Wenn wir vom Kollektivismus reden, könnten dies einige als Abkehr
vom libertären Kommunismus verstehen. Dem ist aber nicht so. Wir sprechen
vom Kollektivismus als Mittel, nicht als ökonomisches Ziel der künftigen
Gesellschaft. Wir meinen Kollektivismus als Organisationsform, als
Möglichkeit, Initiative und Kräfte aufzugreifen und sie zu entwickeln
sowie endlich Kollektivismus als Form der Disziplin des Einzelnen
gegenüber dem Allgemeinen.
Mit Charles Malato sind wir der Meinung, daß zum Sieg der Zusammenschluß
unbedingt notwendig ist, dh. das Kollektiv ist das einzige Mittel
der Stärke und der Disziplin. Dieses Problem hat große Auseinandersetzungen
unter den Anarchisten hervorgerufen. Ein Teil hat ungeachtet der Realitäten
mit großem Nachdruck den Individualismus hochgehalten und dabei nicht
beachtet, daß dieser als libertärer Ansatz steril wird. Die tatsächliche
Stärke und die Realisierungsmöglichkeiten liegen in der Organisation.
Allgemein wird die Ansicht vertreten, die Organisation und ihre Wirkung
laufe dem Wesen des Föderalismus und der individuellen Freiheit zuwider.
In diesem Fall wird das Relative mit dem Absoluten verwechselt, und
vor allen Dingen die Gegenwart mit der Zukunft.
Die libertäre Gesellschaft der Zukunft braucht - einmal in das Bewußtsein
der Völker eingedrungen - für ihre Entwicklung nicht mehr jene Macht,
die sie ausüben muß, um über die kapitalistische Gesellschaft zu siegen.
(...)
Wir verurteilen den Parlamentarismus, alle Spekulationen, die Kollaboration
der sozialistischen Parteien. Aber in dieser Hinsicht müssen wir uns
auch fragen, was tun wir Anarchisten, damit diese Schacherei der professionellen
"Erlöser" des Sozialismus unnötig und verhindert wird. Wo
und wann haben wir Anarchisten intensive Kampagnen durchgeführt, die
sich voll den ständig auftretenden Problemen, den täglich im Kampf
aufkommenden Fragen, und dem Schoße des Kapitalismus entsprungenen
Schwierigkeiten stellen? Das sind alles Fragen, für deren Lösung sich
die proletarischen Massen von dem Gezirpe der professionellen Politiker
einfangen lassen.
Das Proletariat darf weder Gerechtigkeit im Parlamentarismus erhoffen,
noch auf Spekulationen von "Erlösern" oder auf die Kollaboration
vertrauen. Aber das Proletariat hat ein Recht darauf zu wissen, wem
es vertrauen kann - und es nicht nur zu erfahren, sondern auch Garantien
darüber zu bekommen, wie ihre unmittelbaren Interessen erfüllt werden
und wie eine künftige Gesellschaft, zwar mehr oder wenig vorläufig,
aber positiv aussehen kann. Ein Minimum dieser Garantien erhält das
Proletariat vom Syndikalismus. Aber der Syndikalismus ist nicht der
Anarchismus. (...)
Auch wenn wir Materialisten sind, glauben wir nicht so einfach, daß
der Mensch von Brot allein lebt. Er braucht vielmehr auch Gerechtigkeit,
geistige Nahrung von der Kultur und das Bewußtsein seines eigenen
sozialen Wertes. Dies ist ein entscheidender und unumgänglicher Faktor,
der den grundlegenden Veränderungsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft
vorantreibt. (...)
Fortsetzung folgt.
Kassel 05/2004
Eine Information des Allgemeinen Syndikats Nordhessen
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