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Argentinien:
Eine Lektion in Anarchismus
Seit letzten Winter [2001] greifen die BewohnerInnen Argentiniens
den Staat an und machen seine KomplizInnen von links und ganz links
lächerlich. Sie verändern den Kapitalismus und schaffen Generalversammlungen
in einem solchen Umfang, wie es sie seit 1936 (in Spanien) nicht
mehr gegeben hat. Und das alles ohne, dass ein Anführer sich blicken
lässt. Sie haben sich entschlossen freiheitlich gegen Staat und
kapitalistischen Terrorismus zu kämpfen. In [dem Regierungssitz]
Buenos Aires haben sich die EinwohnerInnen in Nachbarschafts-Vollversammlungen
selbst organisiert und versuchen ihr Leben zu kontrollieren.
Was auch immer das Ergebnis sein wird, diese Bewegung hat bereits
die alten ideologischen Formen durchbrochen, indem sie zwei ihrer
Vorteile verwirklichte: direkte Demokratie und Verweigerung staatlicher
Institutionen (welche nun auch für den internationalistischen Klassenkampf
gelten werden). (1)
Diese neue Situation der internationalen Revolution sollte AnarchistInnen
erfreuen. Aber in Frankreich [und Deutschland] ist die anarchistische
Bewegung, wie überall, zu sehr in Praktiken gefangen, die ihre Anfälligkeit
gegenüber der Ideologie des Mainstream aufzeigt: die Teilnahme am
Antiglobalisierungs-Spektakel, der Reformismus am Arbeitsplatz im
Namen einer "wirkungsvollen Gewerkschaftsarbeit", pathetische
Allianzen mit National-Regionalisten hier und mit Linken dort...
Es wird Zeit, wenn wir wirklich am Aufbau einer anderen, einer freien
und gerechten Gesellschaft mit eigenen Vorschlägen teilnehmen wollen,
dass wir zurück zu unseren Ursprüngen gehen - einer Praxis, die
mit ihren Ideen übereinstimmt, einer horizontalen Praxis, die selbstbestimmt
und nicht spektakulär ist. Die Ereignisse in Argentinien erteilen
AnarchistInnen auf der ganzen Welt eine Lektion darin.
Überraschende Standpunkte einiger linker Libertärer
Am 20. Dezember 2001 kämpfte die Bevölkerung gegen den Staat und
es verbündeten sich die Ärmsten mit der Mittelklasse. Diese Allianz
ist hauptsächlich das Ergebnis einer verfehlten politischen Planung.
Am Anfang wollte die Mittelklasse bloss ihre Ersparnisse zurück
und kümmerte sich nicht um die Not anderer. Gleichzeitig mussten
die Ärmsten verhungern und es gab wochenlang Plünderungen. Die Regierung
bereitete einen neuen Schlag vor, um die Interessen des internationalen
Kapitalismus zu bewahren. Sie war bereit sich selbst als die Verteidigerin
der Ordnung gegen die "Anarchie" darzustellen. Die Regierung
dachte, dass die Mittelklasse schon auf dem rechten Weg bleiben
und diesen Tausch annehmen würde - zwar ruiniert zu sein, aber ohne
Unsicherheiten.
Der Eckpfeiler dieser Strategie, die Ausrufung des nationalen Notstandes,
hatte jedoch eine entgegengesetzte Wirkung - die Vereinigung aller
Unzufriedenen wurde dadurch erst besiegelt. Der Grund dazu ist einfach:
In Argentinien verstehen eine unglaubliche Anzahl Leute, wie das
System funktioniert und beschlossen es zu beenden und mit ihm alles,
was das System repräsentiert. Daher gab es direkt nach dem 20. Dezember
2001 diese Verweigerung gegenüber allen politischen Parteien und
[hierarchische] Gewerkschaften. Diese Zurückweisung brachte erstaunliche
Stellungnahmen aus Teilen der anarchistischen Bewegung hervor. Die
[libertär-sozialistische Organisation] OSL aus Argentinien erklärte
dazu:
"Aber sicherlich war die komplette Ablehnung politischer Parteien
eine der charakteristischen Eigenschaften der Demonstration (vom
20.Dez. 2001). Diese von den Medien geförderte Einstellung spielte
der Desorganisation und Spaltung in die Hände, was die Rechten begünstigte."
Diese Stellungnahme wurde von OSL Schweiz und von anderen Medien
der AnarchistInnen, wie "Alternative Libertaire" in Frankreich
und "Tierra y Libertad" [3] in Spanien kommentarlos weiterverbreitet.
Dies ist eine entsetzliche Verteidigung des Parlamentarismus. Sie
unterstützt die konterrevolutionäre Idee, dass Massenbewegungen
ohne einen politischen Apparat und ohne [hierarchische] Gewerkschaften
nicht existieren könnten!
Was war am 20. Dezember 2001 passiert? Die Massen waren auf den
Strassen, der Staat wurde überwältigt, Parteien und [hierarchische]
Gewerkschaften abgelehnt. Die Polizei tötete einunddreissig Personen
und überall gab es jede Menge Verwirrung. Sollten wir vor einem
solchen Durcheinander Angst haben? Alle revolutionären Bewegungen
sind gezwungen sich angesichts der Widersprüche jener Menschen zu
organisieren, die die Revolution vorantreiben. Es ist die Rolle
der einzelnen anarchistischen AktivistInnen hart daran zu arbeiten
und alle Möglichkeiten einzusetzen, um die unterdrückten Klassen
gegenüber Staat und Kapitalismus klar herauszustellen und unter
einem freiheitlich-kommunistischem Blickwinkel zu vereinigen.
Wie sollten die Parteien und [hierarchische] Gewerkschaften eine
Rolle in dieser revolutionären Aufgabe spielen? Was soll es bringen
die Probleme in Begriffen von "links" und "rechts"
aufzuteilen, wenn sie klar durch "Revolution" und "Konterrevolution"
beschrieben werden können. Im Gegenteil, wir danken den Einwohnern
Argentiniens dafür, dass sie diesen ersten notwendigen, diesen wahrlich
revolutionären Schritt, getan haben.
Klärungen
In Argentinien gibt es einige "militante AnarchistInnen",
die die Denkweise derjenigen linken Gruppen teilen, die bereit sind
jeden Versuch massenhafter Selbstorganisation zu untergraben.
Im Gegensatz dazu nehmen die Anarchistische Föderation Argentiniens,
die F.O.R.A. [4] und andere Militante die positiven Aspekte dieses
Kampfes wahr. Bereits im Januar 2000 beschrieb die "Organizacion
Obrera" [5] in einem Papier die Hauptaspekte des Kampfes. [Hierarchische]
Gewerkschaften und linke, sowie linksextreme, Politiker wurden darin
klar als Feinde der ArbeiterInnen blossgestellt. Dass die Bevölkerung
sie zurückweist sei ein ermutigendes Zeichen. "Organizacion
Obrera" besteht darüber hinaus auf der Sebstbestimmung anarchistischer
Konzepte und Methoden. Es wird daran erinnert, dass wenn der Staat
und die Institutionen eine Situation, wie die in Argentinien, als
"Anarchie" bezeichnen, es sich eben nicht um Anarchie
handele! Was passiere, sei lediglich ein Schritt zum Verfall der
Macht. In Wirklichkeit aber sei das Chaos von Staat und Kapitalismus
verursacht worden und nicht durch anarchistische Ideale.
Globale Solidarität: Besetzung der argentinischen
Botschaft in London (Juni 2002)
Die AnachosyndikalistInnen in Argentinien wissen, dass diese Periode
wichtig ist, aber dass die Leute noch eine Menge zu tun haben, um
eine Gesellschaft auf sozialer und freiheitlicher Grundlage zu organisieren.
Daher werden sie fortfahren ihr Vorhaben zu verwirklichen.
"Wir AktivistInnen der F.O.R.A. sind eine Organisation von
ArbeiterInnen, die als gesellschaftliches Ziel den anarchistischen
Kommunismus haben. Und das heisst nicht, dass wir den ganzen Tag
lang Fensterscheiben einschlagen. Das sagen aber die LügnerInnen
um ihr wirtschaftliches Wohlergehen und ihre politische Macht zu
beschützen. Im Gegensatz dazu bedeutet Anarchismus eine neue Gesellschaft,
die horizontal strukturiert ist, ohne dass die einen gegenüber anderen
bevorteilt werden. Und wo alle in freien Versammlungen die wirtschaftliche
und alltägliche Richtung bestimmen können. Eine solche Gesellschaft
ist nur möglich, wenn die gesellschaftliche und wirtschaftliche
Gleichheit aller Personen in dieser Gesellschaft als Rahmenbedingung
erfüllt ist..."
In der gleichen Veröffentlichung machte ein Artikel Vorschläge für
die Schaffung allgemeiner Ortsversammlungen und eines Treffens von
Nachbarschafts-Delegierten, die beauftragt und abrufbar sind, um
gemeinsam mit örtlichen, regionalen und internationalen Beauftragten
(alle jederzeit abrufbar) die Kontrolle über die Produktion und
den Konsum durch diese Versammlungen zu ermöglichen.
Lehren für die Zukunft
Diese Vorschläge stimmen nicht nur mit unseren Ideen überein, sondern
sie spiegeln die Wirklichkeit wider. Hier der Beweis. Zur gleichen
Zeit als die Mittel der F.O.R.A. nur eine vertrauliche Weiterverbreitung
solcher Ideen ermöglichten, entdeckten bzw. erfanden die BewohnerInnen
Argentiniens eine praktische Vorgehensweise, die mit den Vorschlägen
der F.O.R.A. vergleichbar ist. Bald darauf, am 20. Februar 2002,
erschien in [der französischen Zeitung] "Le Monde" eine
Meldung, dass "in Buenos Aires die BewohnerInnen Nachbarschaftsversammlungen
organisieren. (...) "Alle müssen gehen!" Dieser
Slogan betrifft Politiker, Richter, Banker und Gewerkschafter. (...)
Jeden Sonntag treffen sich die verschiedenen Nachbarschaftsdelegationen
zu Generalversammlungen, in denen Sprecher über die Arbeit in den
jeweiligen Nachbarschaften informieren und Vorschläge für neue Kämpfe
vortragen... Alle Entscheidungen werden durch das Heben der Hände
abgestimmt, kein Redner darf im Namen einer Partei sprechen und
es gibt eine systematische Ablösung der Delegierten."
Andere Berichte beschreiben die Schwierigkeiten von PolitikerInnen
und Gewerkschaftsfunktionären, die gezwungen sind, sich zu verkleiden,
um überhaupt auf die Strasse gehen zu können. Sicher, wir können
uns all die Angst vorstellen, die so etwas bei den Möchtegern-Führern
auslöst! Die BewohnerInnen Argentiniens führen einen unglaublichen
Kampf. Aber wir sollten unseren Optimismus dämpfen - aus vielen
Gründen. Der wichtigste ist, dass jene, die üblicherweise stark
genug sind sich als HelferInnen der Unterdrückten darzustellen,
obwohl sie nur deren Zuhälter sind, bereits versuchen in die Strukturen
an der Basis einzudringen, sie zu unterwandern und zu bestechen.
Dies tun sie, indem sie die vielfältigen Widersprüche und Schwierigkeiten
hervorheben, mit denen die Menschen alltäglich zurechtkommen müssen.
Denn die Praxis der direkten Demokratie ist nicht einfach. Besonders
nicht, wenn die nötigen gesellschaftlichen Bedingungen, wie die
gemeinsame Wiederaneignung der Produktionsmittel, noch nicht umgesetzt
sind.
Die Verbrecher in Bürgertum, Politik und [hierarchische] Gewerkschaften
machen eine schwere Zeit durch. Sie warten ab. Wenn die Kämpfe nachlassen,
wenn jene, die arbeiten müssen um zu Überleben, müde werden oder
wenn sie zurückgehen um ihr tägliches Essen zu erarbeiten, dann
wird es den Verbrechern wieder möglich die Macht zu übernehmen und
den Kapitalismus wiederanzukurbeln. Bis zu dem Tag an dem die ProletarierInnen
der Welt, angeregt von den Ereignissen in Argentinien, die nötigen
Massnahmen ergreifen werden, um die wirtschaftliche Sklaverei abzuschaffen.
Yvon
(1) Diese Ereignisse erinnern an jene in Algerien im April 2001
nach der Ermordung eines jungen Mannes durch die Polizei.
"Der besonders herausragende Aspekt des algerischen Aufstands
ist die Selbstorganisation. Die Feindschaft gegenüber politischen
Parteien und jeder "Nähe zur Macht", das Misstrauen gegenüber
allen unkontrollierten Vertretungen, die Verweigerung wieder einmal
das Fussvolk für politische Pläne zu sein; all das brachte die Verbreitung
und Zusammenarbeit der Dorf- und Nachbarschaftsversammlungen hervor,
die schnell von allen als der einzige gültige Ausdruck der Bewegung
angesehen wurde." (Jaime Semprun, "Plaidoyer pour l’insurrection
algerienne" [Plädoyer für den algerischen Aufstand], in: Encyclopedie
des nuisances)
[2] frnz. = "Libertäre Alternative"
[3] span. = "Land und Freiheit"
[4] "Federacion Obrera Regional Argentina"
(span. = Regionale ArbeiterInnen-Föderation Argentinien),
Mitglied der "Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA)"
[5] span. = "Arbeiterorganisation"
Der Artikel ist entnommen aus:
"Combat Syndicaliste", #73 (Apri/Mai 2002)
Zeitschrift der "Confederation National du Travail (CNT-IAA)"
Sektion der "Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA)"
in Frankreich.
Dieser
Artikel ist (in Deutsch) auf einer französischen
Homepage der
CNT - IAA zu finden:
http://cnt-ait.info/article.php3?id_article=441
Kontakte:
F.O.R.A. - IAA
c/o Coronel Salvadores 1200,
1167 Buenos Aires, Argentina,
email: [email protected]
CNT - IAA
8, place Louis Barthou
33000 Bordeaux
France
email: [email protected]
Internet: http://www.cnt-ait-fr.org/
Übersetzung:
eduCAT
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